Susanne Gläser

Ich habe vor einigen Jahren einen Text geschrieben über meinen Vater, der gedacht war für seine Biografie. Er ist damals nicht erschienen und findet jetzt seinen Platz hier im Archiv, worüber ich mich sehr freue und wo er viel besser hinein passt. Vor allem aber zeigt er, wie ich ihn in Erinnerung behalten möchte: unkonventionell, liebenswert, eigen und – im wahrsten Sinne des Wortes – un-ver-schämt:
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Würde mein Vater eine Annonce in der Zeitung aufgeben müssen, weil ihm sein Vorrat an Plastiktüten zur Neige ginge, stünde darin in etwa Folgendes:
„Suche große, alte, benutzte Tragetaschen sämtlicher bekannter Billigdiscounter, die die Spuren Ihrer Nutzung nicht verstecken. Gerne abgewetzt, gerne verblichen und noch viel lieber ausgebeult. Hauptsache, Euer Charakter ist sichtbar. Das macht Euch liebenswert. Wenn Ihr es mögt, dass Ihr mit nur einem Detail bestückt auf die Reise geht, dann lasst Euch von mir tragen …“
Ja, „Plastebeutel“ sind sein Liebstes. Je oller, desto besser!
Erst neulich durfte ich mich wieder daran erinnern. Mein Vater wollte mich und sein Enkelchen nach Hause fahren und nur noch schnell seinen Führerschein einstecken. Ich hatte ihn eine Weile nicht mehr mit Plastiktüte gesehen und diesen Spleen fast vergessen. Darum war ich auch kurz verwundert, warum er seinen Führerschein in der Küche suchte. – Bis er wieder erschien und fröhlich sein Beutelchen schwenkend rief, jetzt könnten wir auch endlich los.
Da fiel es mir wieder ein: Mein Vater ist nicht nur der, der seinen Führerschein in einer LIDL-Tüte spazieren trägt, sondern er ist auch der, der jahrelang die Bühne mit einer ollen ALDI- (oder wahlweise auch LIDL-) Tüte in der Hand betrat, in der einzig und allein seine Blockflöte wohnte. (Heute logiere die Flöte in einem roten Koffer, wurde ich, während ich das hier schrieb, berichtigt.)
Mein Vater, das ist also der, dem nichts peinlich ist:
Der, der geschminkt in der Kneipe sitzt, weil er das von seiner Frau so hoch gelobte Maskarabürstchen ausprobieren will.
Er ist der, der sich ohne Anlass eine rote Geschenkband-Schleife um den Kopf wickelt und diese auch in die Kneipe spazieren trägt, weil er vergessen hat, sie wieder abzubinden.
Mein Vater ist der, der mit offener Hose auf der Bühne steht, weil sein Sohn Robert ihm beigebracht hat, dass es cool ist, den oberen Knopf einer Levis nicht zu schließen und für einen Rockstar quasi Pflicht ist.
Er ist auch der, der seine neue Lederjacke solange auf dem Rücksitz seines Autos durch die Gegend fährt, bis sämtliche Mitfahrerhintern diese so arg abgewetzt haben, dass sie leger und getragen aussieht und nun - nicht mehr ganz so neu – endlich getragen werden kann.
Er ist der, der sich Lesebrille und Schuhe bei ALDI kauft.
Und er ist der, der sich zum Gig verabschiedet, während der seine Zahnbürste in die Innentasche besagter Lederjacke steckt, wie andere ihren Kamm. Reicht ja für eine Übernachtung.
Er ist auch der, der Plastiktüten so vor sich her trägt, wie Großmütter ihre Handtaschen, wenn sie sich bedroht fühlen. Eben weil ihm in dieser Welt rein gar nichts peinlich zu sein scheint. Im Gegenteil. Seine liebste Antwort auf die Frage „Ist dir das nicht peinlich?“ ist: „Oooch, das stört mich überhaupt nicht! Das ist mir egal.“
@ Susanne Gläser 2007
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